
Vinzenz Kastner und Sebastian Schally von Accenture Österreich haben sich dem Ziel „Barrieren überwinden“ verschrieben – und zwar im Handel wie auch im Web. Was kann im Online- als auch im stationären Handel getan werden, um dem Thema Behinderung im Alltag noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Im Interview erklären die beiden, weshalb eine Behinderung nichts weiter ist als die mangelnde Fähigkeit, mit schlechtem Design umzugehen und warum eine gute User Experience nur eine barrierefreie sein kann.
Mit Beispielen aus der Praxis werden einfache Maßnahmen aufgezeigt, die eine große Wirkung haben. Hier lernst du, was es mit den vier Prinzipien der Überprüfung, oder auch die WCAG-Kriterien (Web Content Accessibility Guidelines) auf sich hat, die du für deine (Retail-)Website nutzen kannst.
Wir alle nutzen Barrierefreiheits-Features tagtäglich
HV: Vinzenz, du bist nicht nur Senior Manager Products & Retail bei Accenture Österreich, sondern auch „Disability Ambassador“. Sebastian, du bist Studio Lead vom Accenture Interactive Studio in Wien. Was genau fällt da in euren Aufgabenbereich bzw. wieso beschäftigt ihr euch mit dem Thema „Barrierefreiheit“ im Web?
Vinzenz Kastner: Ich bin in der Tat sehr stolz, mich in diesem Bereich engagieren zu dürfen. Accenture setzt sich dafür ein, die Gleichstellung für alle zu fördern und einen integrativen Arbeitsplatz zu schaffen, der Menschen mit Behinderungen unterstützt. Es gibt zahlreiche soziale Aktivitäten, bei denen Mitarbeitende mitwirken können. Das macht großen Spaß und bereichert die tägliche berufliche Tätigkeit. An der Funktion des „Disability Ambassadors“ fasziniert mich insbesondere das Prinzip „Barrieren überwinden“. Dabei geht es primär darum, für das Thema zu sensibilisieren und die Stärken der Menschen mit Behinderungen zu erkennen. Dabei überlegen wir uns mit unseren Kund:innen und Geschäftspartner:innen, insbesondere mit unserem Partner MyAbility, wie Behinderungen von Bewerber:innen als Stärken genutzt werden können.
Sebastian Schally: Wir haben vor drei Jahren begonnen das Thema Barrierefreiheit in unser Delivery Credo zu integrieren, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen haben wir uns mit der Gesetzeslage auseinandergesetzt: 2016 hat die EU eine Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen veröffentlicht. Seitdem sind die EU-Mitgliedsstaaten gefordert, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen.
Andererseits sind wir der Meinung, dass eine Behinderung nichts weiter ist, als die mangelnde Fähigkeit mit schlechtem Design umzugehen. Fakt ist, die meisten Barrierefreiheits-Features sind nicht nur exklusiv für Menschen mit Behinderung hilfreich, sondern werden von 81% der Internet-User:innen in der EU jeden Tag genutzt.

bei Accenture Österreich
HV: In eurer Funktion bei Accenture in Österreich bekommt ihr bestimmt im Austausch mit euren Partner:innen und Kund:innen einen umfassenden Einblick in das tägliche Leben von Menschen mit Behinderungen. Welche sind hier die größten Hürden, die einer optimalen Eingliederung in die Gesellschaft im Weg stehen?
Vinzenz Kastner: In unserer Gesellschaft werden Menschen mit Behinderung immer noch nicht als absolut normal erachtet. Also finden die größten Hürden in erster Linie in unser aller Köpfen statt. Wo beginnt eine Behinderung eigentlich? Bei einem Brillenträger wie mir mit fast 5 Dioptrien? Ohne Brille oder Kontaktlinsen bin ich völlig aufgeschmissen! Das größte Problem sehe ich darin, dass wir Menschen oft nicht einfach so behandeln wie sie sind.
Sebastian Schally: Menschen mit Behinderung möchten gleichermaßen am alltäglichen Leben teilhaben wie alle anderen Teile der Gesellschaft auch. Viele denken, die Gruppe der Menschen mit Behinderung ist winzig klein, aber das stimmt nicht. Fast 20% der in Österreich lebenden Menschen benötigen barrierefreies Internet.
Wir alle tragen eine Grundverantwortung dafür, einen barrierefreien Zugang zur Information zu garantieren. Jeder, der ein Angebot hat, dass einen essenziellen Lebensbereich abdeckt, sollte seine Hausaufgabe machen und behindertengerechte Websites zur Verfügung stellen.
HV: Vinzenz, du bist der Retail-Experte. Sind österreichische Lebensmittelgeschäfte deiner Meinung nach aktuell behindertengerecht ausgestattet? Was läuft gut in diesem Bereich, was nicht?
Vinzenz Kastner: Der österreichische Einzelhandel für Lebensmittel macht in dieser Hinsicht einiges schon recht gut. Hier müsste man aber ehrlicherweise die Menschen mit Behinderung dann fragen. Ich persönlich als Kunde finde, dass durchaus mehr Aufmerksamkeit auf das Thema „Barrierefreiheit“ in sogenannten Geschäften des täglichen Bedarfs gelegt werden sollte.
Eine Kampagne mit Beispielen aus der Praxis, um Awareness zu schaffen, wäre meiner Meinung nach der richtige Ansatz. In einem Drogerie- oder Beautyladen könnte man zum Beispiel das Thema „Make-Up“ für Damen mit erheblicher Seheinschränkung beleuchten.
Barrierefreie Digital-Lösungen von der alle User:innen profitieren
HV: Sebastian, du bist der Digitalisierungsexperte. 81% der Internet-User:innen in der EU nutzen – bewusst oder unbewusst – regelmäßig Features, die für mehr Barrierefreiheit entwickelt wurden – von welchen Features sprechen wir da?
Sebastian Schally: Wir sprechen hier von Features wie die Untertitelung bei Videos. Im Video-Stream von Facebook gibt es mittlerweile kaum noch ein Video, das nicht untertitelt ist. Erfolgreiche Content Creator und Blogger:innen haben auf dieses Feature gesetzt, weil sie erkannt haben, dass ihre Zielgruppe die Videos in der U-Bahn, Schule oder Arbeit rezipiert – an Orten, wo der Ton ausgeschaltet bleiben muss.
Ein weiteres klassisches Beispiel, das einen ungeheuren Impact im Bereich der Barrierefreiheit haben kann, wenn es gut umgesetzt wurde, sind Voice Tags. Siri, Alexa, Google Actions und Co. wurden entwickelt, um Menschen einen schnelleren Informationszugang zu ermöglichen. Gerade durch Alexa von Amazon wird Online-Shopping so niederschwellig wie nie zuvor: Ein Befehl und die Ware ist bestellt. Das Ziel ist hier, die Hürden – Handy oder Laptop – aus dem Weg zu räumen, damit sich der Kaufprozess noch schneller abwickeln lässt.
Dann gibt es da noch den „Dark Mode“ am Handy und das Thema „Einfache Sprache“. Der Dark Mode ist bei den meisten Smartphones bereits implementiert. Für viele Menschen mit einer Kontrastschwäche ist die weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund eine große Hilfestellung beim Lesen. Einfach Sprache ist nicht nur für Menschen mit einer kognitiven Behinderung hilfreich, sondern auch für alle, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
HV: Wo gibt es bei der Online-Interaktion mit Unternehmenswebsites derzeit noch großes Verbesserungspotenzial?
Sebastian Schally: Hier muss man zwischen technischem und inhaltlichem Verbesserungspotenzial unterscheiden. Inhaltlich sollte jeder, der ein Angebot hat, dass einen essenziellen Lebensbereich abdeckt, seine Hausaufgabe machen und behindertengerechte Websites zur Verfügung stellen.
Die technischen Möglichkeiten umfassen beispielsweise, ein leichtes Erfassen der Inhalte durch einen Screenreader, gute Beschreibungen in den Links sowie die Hinterlegung von Alternativtexten für Bilder. Denn jemand der nicht sehen kann, verliert Information von visuellem Content beim Surfen auf der Website. Wichtig dabei ist, die gleiche Botschaft und den richtigen Kontext zu transportieren. Es kommt auf ein gutes Match der visuellen und der technischen Informationsarchitektur an. All diese Aspekte sind übrigens auch für ein gutes SEO Ranking essenziell.
Was heißt das jetzt? Wissenswertes aus der Praxis!
HV: Wenn sich eine Website an den „4 Prinzipien der Überprüfung“ (wahrnehmbar, bedienbar, verständlich, robust) orientiert, entspricht sie dann den Disability-gerechten Anforderungen? Oder gibt es da noch mehr zu beachten?
Sebastian Schally: Die Kriterien der WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) sind eine extrem gute Richtlinie, an denen man sich immer orientieren sollte, auch wenn im Unternehmen die Mitarbeitenden keine Experten auf dem Gebiet der „Barrierefreiheit“ sind.
Ratsam ist jedenfalls sich schon während der Websiteentwicklung dem Thema anzunehmen. Der Mehraufwand bei einer barrierefreien Umsetzung ist meiner Meinung nach gleich null, wenn man sie vom ersten Tag an implementiert und kann sich verhundertfachen, wenn man die Barrierefreiheitsprüfung erst am Ende berücksichtigt.
HV: Accenture Österreich bietet umfassende Beratungsleistungen im Bereich Retail an. Was könnt ihr für Einzelhändler:innen tun, um deren Chancen am Markt zu verbessern?
Vinzenz Kastner: Unsere Beratung für Einzelhändler:innen ist auf deren Digitalisierung und digitale Transformation spezialisiert. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um technische Lösungen. Digitalisierung ist in erster Linie eine „Kulturveranstaltung“!
Kund:innen gehen nicht in den stationären Laden, um ein Produkt zu kaufen, sondern um ein Bedürfnis zu befriedigen. Ins Schuhgeschäft locken nicht die Schuhe an sich, sondern die Lösung, die wir dort für unsere Füße finden. Ein richtiger Fashionhandel verkauft Trends, nicht Kleidung – ein guter Sporthandel verkauft Abenteuer & Ziele! Das Produkt ist jeweils Mittel zum Zweck.
Genauso begleiten wir als Accenture Österreichs den Retail im stationären Handel und im eCommerce: Digitalisierung als Mittel zum Zweck, um Kund:innen zu begeistern, sodass diese gerne im jeweiligen Laden einkaufen.
Sebastian Schally: Bei den meisten Projekten, an denen wir in letzter Zeit gearbeitet haben, ist Barrierefreiheit eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Projektumsetzung. Der Markt und die Wahrnehmung einzelner Unternehmen scheinen dem Gesetzgeber vorauszueilen. Es ist ein Verständnis dafür angekommen, dass eine gute barrierefreie Plattform keine Krücke ist, sondern das beste Digitalprodukt für alle Zielgruppen.
Zum Glück ist das Thema Barrierefreiheit bei vielen unserer Kund:innen bereits angekommen. Dass es jemand noch gar nicht auf dem Schirm hat, passiert heute so gut wie nicht mehr.
HV: Vinzenz, wenn dich jemand aus dem österreichischen Retail spontan nach deinen fünf Geheimtipps fragt, um nicht nur eine stärkere Kundenbindung, sondern auch eine Umsatzsteigerung zu erreichen, was würdest du ihm raten?
Vinzenz Kastner:
- Know your customer! Kundendaten sind dabei ein richtiger Schatz!
- Mach deine Kund:innen zu Fans! Nicht Kund:innen „binden“ – Kund:innen „begeistern“!
- Trau dich, neue Dinge auszuprobieren und ärgere dich nicht, wenn etwas nicht klappt! Jedes Learning zählt.
- Persönliche Kundenloyalität und Kundenbegeisterung erzeugt mehr Nachhaltigkeit als unpersönliche Umsatzsteigerung – bzw. das eine muss das andere nicht ausschließen 😉
- Gut ausgebildete Mitarbeitende sind neben Daten der zweite Schatz von guten Retailer:innen: Sowohl im stationären Kundenkontakt als auch im digitalen Shoppingerlebnis. Pflege deine Kolleg:innen wie deinen Data-Lake!